Dieser Artikel ist entnommen aus: "DIE ZEIT", Nr.16, S.69, 14.April 2005

Gutes Rad ist teuer

Über den schönen Wahnsinn, sich ein neues Rennrad zu kaufen

VON MATTHIAS ALTENBURG

Prolog: Ein Sommerurlaub ohne Fahrrad kommt mir seit langem sinnlos vor. Aber ich habe es satt, auf breiten Reifen und mit wippender Federung eine gut geteerte Bergstraße hinaufzustampfen. Ich habe es satt, mich auf den schönen, sonnigen Alleen des Roussillon von sehnigen Rentnern auf ihren eleganten Rennmaschinen überholen zu lassen und nicht mal ihren Windschatten nutzen zu können. Mein Mountainbike ist fürs Gelände, nicht für den Asphalt gemacht.

Luigi ist Straßenpedaleur seit frühester Jugend. Er grinst mich an. Mein Wunsch ist ihm eine Genugtuung. »Du willst dir ein Rennrad kaufen?«, fragt er. »Gut, dann zieh dich bitte aus. Ja, die Unterhose auch! Stell dich an die Wand, klemm dir eine Wasserwaage ganz oben zwischen die Beine, und miss den Abstand zwischen Fußboden und Oberkante der Waage. Nein, zeig mir keinen Vogel, mach einfach, was ich sage. So: Jetzt haben wir deine Schritthöhe. Eine heilige Zahl! Das Erste, was man wissen muss, wenn man sich ein Rad kaufen will.« Luigi kennt sich aus, ich glaube ihm. Wir multiplizieren den Wert mit 0,66 und addieren zwei Zentimeter. Die Zahl, die wir jetzt haben, entspricht der Rahmengröße, die ich brauche. Meine Zahl heißt 56. Ein fester Wert, eine gängige, schöne Größe.

Andererseits liest man, dass die Radprofis Rahmen wählen, die bis zu zehn Zentimeter niedriger sind, als es der Formel entsprechen würde. Und wollen wir nicht alle fahren wie die Profis? Na ja, und schon sind wir beim schönen Elend des Radkaufs angelangt. Man liest dauernd irgendwas irgendwo. Und immer etwas anderes. Es gibt so viele Fachleute, wie es Rennradbesitzer gibt.

Was soll ich machen? Luigi ist für Monate im Ausland; ich bin auf mich gestellt. Also stürze ich mich allein in das Meer der Angebote und gerate schon bald in einen Strudel, in dem der Unterschied zwischen Irrsinn und Enthusiasmus nicht mehr auszumachen ist. Die höchst unvollständige Übersicht der Zeitschrift tour verzeichnet für das laufende Jahr über 200 neue Modelle. Nicht zu reden vom Gebrauchtmarkt. Allein bei eBay Deutschland stehen Woche für Woche zwischen 500 und 1000 Rennräder zur Auktion. Und kaum ein Secondhandverkäufer, der nicht damit prahlt, dass sein gutes Stück »kaum gefahren", »ohne Kratzer« und sowieso »wattestäbchengepflegt« sei. Vier der Auktionsrenner fasse ich schließlich ins Auge: ein Cannondale Saeco (schickes Design, steifer Rahmen), ein Stevens Vuelta (guter Ruf, beste Ausstattung), ein Principia (freundliches Schwarz, hoher Imagewert) und ein Pinarello (alter Adel).

»Nein«, sagt Luigi, als ich ihn endlich ans Telefon bekomme, »das machen wir nicht. Wir kaufen kein fertiges Rad, vor allem kein gebrauchtes und schon gar nicht übers Netz.« So langsam beginne ich zu begreifen: Wir nehmen nichts aus zweiter Hand. Wir bestellen nicht beim Versandhandel. Und natürlich gehen wir auch nicht in den Laden und suchen uns ein Rennrad aus. Wir kaufen nicht einfach, wir stellen zusammen. Custom-made heißt das Zauberwort! Der Kunde wählt aus. Und hat natürlich die Qual. Zahlen muss er am Ende trotzdem und wird dann zwischen 1500 und 6000 Euro ausgegeben haben. Aber erst mal bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich kundig zu machen und sich aus den vielen fremden Urteilen eine eigene Meinung zu bilden. Also tauche ich ab in die Tiefen der Fachmagazine, der Chatrooms und der Vergleichstests. Und benutze bald, ohne zu erröten, Begriffe, die ich vorher nicht einmal kannte: Nippelspanner, Ritzelrechner, Steifig-keitswene. Als besonders hilfreich erweisen sich die beiden großen Foren des Metiers: das tourforum und mehr noch das Forum der rennrad-news. Dort wird mit sympathischer Inbrunst über alles debattiert, was zum Thema gehört, und jeder Neuling kann von den Erfahrungen der Altvordern profitieren. Also gut, ich lerne.

1. Der Rahmen: Ein Rennrad besteht aus 15 Hauptkomponenten. Und um jedes dieser Teile tobt unter den Pedaleuren ein Gesinnungskampf, der mal mit erbarmungsloser Härte, mal mit au-genzwinkernder Selbstironie geführt wird. Sich für eine Marke zu entscheiden heißt vor allem, sich auf einen bestimmten Rahmen festzulegen. Er ist die Basis eines jeden Rades und bestimmt maßgeblich die Sitzposition, das Gewicht, die Fahrstabilität und das Aussehen des fertigen Renners. So alt wie der Straßenrennsport sind die Bemühungen, das Gewicht der Räder zu reduzieren. Bei jeder Speiche, jeder Schraube, selbst beim Lenkerband versucht man, noch ein paar Gramm zu sparen. Stahlrahmen sind schlank und schön, aber fast immer zu schwer. Wer auf eine Maßanfertigung oder gar auf Eigenbau verzichten will, wird sich deshalb zwischen Aluminium und Karbon entscheiden. Aluminium hat den Vorteil, dass seine Verarbeitung preiswerter ist und die Erfahrungen damit älter sind. Die Kohlefaser besticht durch ihr unschlagbar niedriges Gewicht und - bei sorgfältiger Produktion - ihre große Stabilität.

Karbon aus Hamburg oder Stahl aus Italien?

Seit Erfindung des Mountainbikes, mehr noch seit den Erfolgen Lance Armstrongs drängen die Fahrradhersteller aus den Vereinigten Staaten in die Läden der Alten Welt. Den legendären Rahmenschweißern wie Pinarello, Bianchi und Peugeot ist kaum mehr als ihr Ruf geblieben. Doch neben den großen amerikanischen Herstellern Scott, Trek, Cannondale und Giant macht in den letzten Jahren bei den europäischen Radlern vor allem die Hamburger Firma Stevens von sich reden. Durch edles Design, sorgfältige Verarbeitung und ein nahezu unschlagbares Preis-Leistungs-Verhältnis hat Stevens auf dem deutschen Markt bereits Kultstatus erreicht und damit Can-nondale wohl den Rang abgelaufen.

Tatsächlich schwanke ich bis zum Schluss zwischen dem neuen Karbonrahmen der Hanseaten und einem CAAD8 Optimo Si von Can-nondale. Als ich auf die Homepage des efbe-Institutes gerate, fällt endlich die Entscheidung. Der Stevens SCF l hat den Dauerbelastungstest der Walcroper Ingenieure mit der besten Bewertung des unabhängigen Prüflabors bestanden. Damit ist er nicht nur einer der leichtesten (950 Gramm in Rahmenhöhe 56!!!), sondern auch einer der haltbarsten Rahmen, die je gebaut wurden. Und wie schön, wie umwerfend schön er ist! Ich weiß schon jetzt: Ich werde ihn Black Beauty nennen. Okay, durchatmen, weitermachen, weitersuchen!

2. Die Gruppe: Den Markt der Antriebsgruppen teilen sich zwei große Hersteller untereinander auf: die italienische Traditionsfirma Campagno-lo und deren übermächtiger japanischer Konkurrent Shimano. Die Topgruppen der Italiener heißen Record, Chorus und Cencaur. Bei Shimano bekommt man Dura Ace, Ultegra und 105. An fast allen Rennrädern der Welt ist eine dieser sechs Gruppen verbaut. Die Traditionalisten fahren am liebsten Stahlrahmen mit Campagnolo-Schaltung. Die Modernisten bevorzugen Aluminium oder Karbon und verbauen Shi-mano-Teile. So erbittert sich die Anhänger beider Hersteller auch befehden, in ihrer Praxistauglichkeit unterscheiden sich die Komponenten kaum. Bei Schaltung, Bremsen und Naben fällt meine Wahl auf Ultegra. Ihre Reputation könnte besser nicht sein, und sowohl der Preis als auch das Gewicht bleiben im Rahmen.

3. Die Kurbel: Kaum ein anderes Thema wird momentan unter den Rennfahrern so heiß diskutiert wie die Wahl der richtigen Kurbel. Viele Jahrzehnte war das zweifache Kettenblatt Standard. Als aber immer mehr Hobbyfahrer das Bedürfnis entwickelten, ebenfalls einmal den Mont Ventoux oder wenigstens ihren Hausberg zu bezwingen, begann man — wie beim Mounrainbike üblich - ein drittes, kleineres Kettenblatt zu verbauen: den so genannten Rettungsring. Dessen günstigere Übersetzung erlaubt es auch weniger trainierten Radlern, ein paar Höhenmeter zu überwinden, ohne an der ersten Rampe absteigen zu müssen. Nachteil der Dreifachlösung: Sie ist deutlich schwerer, der Pedalstand ist breiter, und es gibt zahlreiche Überschneidungen bei den Gängen. Immer größerer Beliebtheit erfreut sich deshalb eine Neuentwicklung der letzten Jahre: die so genannte Kompaktkurbel. Sie hat nur zwei Kettenblätter, die jedoch mit weniger Zähnen bestückt sind als die der Profischwester. Für Hobbysportler und Amateure allemal eine hochwillkommene Alternative. Meine Kompaktkurbel heißt FSA Carbon Pro und macht Black Beauty um noch einmal 100 Gramm leichter.

4. Die Laufräder: Macht man sich erst einmal bewusst, welch enormes Gewicht die dünnen Felgen und Speichen transportieren müssen, so verneigt man sich fast reflexartig vor den Künstlern, die solche Räder bauen. Allerdings werden in letzter Zeit immer häufiger teure Systemlaufräder angeboten, bei denen die Anzahl der Speichen halbiert wurde. Der Grund: Sie sind leichter und liegen optisch im Trend. Wer auf Stabilität setzt, wird sich jedoch weiterhin für einen klassischen Laufradsatz entscheiden. Wenigstens kann man diesen mit ein wenig Übung selbst zentrieren, wenn mal eine Acht drin ist. Ich nehme die bewährten CXP 33 der Firma Mavic. In Schwarz. Jawohl. Mit 32 Speichen!

Schmerzhafte Erfahrungen mit dem »SPD-System« von Shimano

5. Die Pedale: um schnell zu fahren, muss man nicht nur treten, sondern auch ziehen. »Klick-pedale«, bei denen Schuh und Pedal durch einen Einrastmechanismus miteinander verbunden sind, erlauben eine optimale Kraftausnutzung. Weil aber der Fuß fixiert ist, versucht das Knie, die Bewegung auszugleichen, was bei vielen Fahrern zu Problemen in den Gelenken führt. Da ich sowohl mit den Pedalen von Time als auch mit Shimanos SPD-System schmerzhafte Erfahrungen gemacht habe, fällt meine Wahl auf die kleinen X/2 der Firma Speedplay. Als Einzige auf dem Markt bieten die Lollis, wie sie ihrer Form wegen genannt werden, dem Fuß eine unbegrenzte seitliche Bewegungsfreiheit, und entlasten dadurch das Knie spürbar.

Finale: Was jetzt? Was fehlt? Ein letztes Mal lasse ich mich von den Connaisseuren im Internet belehren: Klingel, Ständer, Gepäckträger und Schutzbleche baut nur an sein neues Rennrad, wer keine Angst hat, sich lächerlich zu machen. Wer hingegen von anderen Fahrern auf der Strecke gegrüßt werden will, der sollte sich die Beine rasiert haben und weiße Socken tragen. Man frage nicht, warum. Beide Dinge gehören zur Stammesfolklore und müssen nicht begründet werden!

Luigi ist von seiner Reise zurück. Mein Rad ist fertig. Black Beauty ist da! Zwei Nächte habe ich vor Entzücken nicht geschlafen. Ich halte die Luft an. Mein Freund schließt die Augen, dann öffnet er sie wieder. Luigi lächelt. Mehr kann man von ihm nicht verlangen. Ja, sagt er, na also. Ich darf wieder armen. Dann erst zeige ich ihm die Rechnung: knapp 3000 Euro. Er zuckt mit den Schultern. und beruhigt mich damit, dass es auch 6000 hätten werden können. Also hoffe ich, halbwegs die Balance gehalten zu haben zwischen Wahnsinn und Begeisterung. Sicher bin ich mir nicht. Doch fürs Erste ist das Glück auf meiner Seite. Wie lange, vermag ich nicht zu sagen, denn irgendwann werde ich mir sicher auch noch einen schönen, schlanken Stahlrahmen kaufen und ihn mit Campagnolo-Teilen bestücken, und mit einer bunten Kinderklingel!

 

MATTHIAS ALTENBURG, 46, ist Schriftsteller und lebt in Frankfurt am Main. Von ihm erschienen bisher drei Romane, zwei Essaybände und zuletzt der Krimi »Ein allzu schönes Mädchen" unter dem Pseudonym Jan Seghers

 

DIE WICHTIGSTEN LINKS:

l. Hier erfahren Sie, welche Größe und welche Geometrie Ihr Rahmen haben sollte:

www.mondello.de/german/vermessung

2. Gutes Forum, viele Fachleute, viele Anfänger, wenige Schwätzer: www.rennrad-news.de/forum

3. Große Link-Sammlung für jeden Bedarf:

www.rennradlinks.de

4. Unabhängiges Prüfinstitut, das Fahrradrahmen auf ihre Haltbarkeit testet:

www.efbe.de/defbefrm.htm

5. Hier werden alle Teile des Rennrades gewogen:

www.weightweenies.starbike.com/listings.php